Das Leben – noch auszuhalten?
Der Mensch im Räderwerk der Zeit, der Aufgaben und Pflichten, der Sachzwänge... Mit der Zunahme der Technik wurde das Leben nicht gemütlicher; mit allen Hilfsmitteln, die uns das Leben erleichtern sollen, nicht bequemer. Mit den verbesserten Kommunikationsmitteln ist alles nur viel schneller geworden, doch kommen wir einander auch näher?
Haben wir noch Zeit? Oder stecken wir in einem Räderwerk der Sachzwänge? Manchmal halten uns Beobachter von außen einen Spiegel vor. Beispielsweise die rumänische Praktikantin, die etwas ironisch zusammenfasste: „In Deutschland musst du immer den Terminkalender in der Tasche haben, wenn du mit jemandem einen Kaffee trinken willst. Inzwischen bin ich auch daran gewöhnt.“ Ja, viele spüren, wie ihnen die Zeit zwischen den Errungenschaften moderner Technik zerrinnt. Und wie die Kraft zum Leben zerbröckelt.
Viele spüren es, und machen doch so weiter. Was bleibt ihnen auch anderes übrig? Aussteigen, alles verlassen – das geht so nicht. Aber gezieltes Umschalten, Luft holen – etwas zurücktreten, um die Dinge und Zusammenhänge in anderem Licht zu sehen. Das muss doch gehen - immer wieder, immer wieder neu.
Christen brauchen dazu keine tiefsinnigen Weisheiten oder esoterische Seelengymnastik. Unsere Gottesdienste schon bieten Gelegenheit, den nötigen Abstand zu finden. Sie sollen ja nicht museale Verklärung überholter Vorstellungswelten sein. Sondern da können wir den Sachzwängen die Stirn bieten, können – mit den gemeinsamen Gebeten, Liedern, Geschichten – die Lage bedenken. Damit uns das Räderwerk der Zeit uns nicht die Sprache verschlägt. Wir finden für unsere geheimen Klagen und Fragen Worte, und geben dem Leid und der Hoffnung Ausdruck. Damit wir wieder mit einem guten Mut an unsere Aufgaben herangehen. Damit wir Weggefährten finden und mit ihnen zusammen spüren: Die Worte, Gebete, Lieder, die uns verbinden – sie tragen mehr als wir allein vermöchten; sie tragen uns weiter und lassen uns auch einander ertragen, machen das Leben erträglich. Das brauchen wir, immer wieder neu: Gute Worte gemeinsam guter Erfahrung, mitten im Leben Gott zu erfahren.
Hermann Aichele-Tesch